Verena Mildner-Misz
Veröffentlicht am 10. Juni 2025
Am 25. Juni 2025 erhält Verena Mildner-Misz den Hans Ehrenberg Wissenschaftspreis für ihre Doktorarbeit, in der sie die Bedeutung des Nahostkonflikts für den westdeutschen Protestantismus in den Jahren 1968 bis 1989 untersuchte. Der Hans Ehrenberg Wissenschaftspreis wird alle zwei Jahre für herausragende Beiträge zum jüdisch-christlichen Dialog vergeben. Mildner-Misz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kirchengeschichte der Kirchlichen Hochschule Wuppertal.
Mildner-Misz: Der Nahostkonflikt gehört seit vielen Jahren zu einem der kontroversesten Themen. Auch im Protestantismus scheinen proisraelisch und propalästinensische Positionen oft unvereinbar gegenüberzustehen. Doch seit wann spielt der Konflikt im Protestantismus eigentlich eine Rolle? Gab es hier ein vorherrschendes Meinungsbild? Und welche Rolle spielt Theologie in den Diskussionen? Diese Fragen habe ich in meiner Doktorarbeit untersucht und dadurch zum ersten Mal die Stimmenvielfalt im westdeutschen Protestantismus zwischen dem dritten israelisch-arabischen Krieg und dem Beginn der ersten Intifada in den Blick genommen.
Mildner-Misz: Das liegt an verschiedenen Faktoren. Zunächst war die deutsche Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg weniger an außenpolitischen Themen interessiert als vielmehr mit innenpolitischen Fragen beschäftigt. Ein weiterer Punkt ist, dass die Shoah in weiten Teilen der evangelischen Kirchen sowie insgesamt in der deutschen Gesellschaft kaum thematisiert wurde. Ein großer Teil der Protestanten in Deutschland hielt nach dem Krieg zunächst an der judenfeindlichen Vorstellung vom verworfenen Gottesvolk fest. Eine Verantwortung gegenüber dem jüdischen Menschen angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen sowie eine Abkehr von judenfeindlicher Tradition wurden in dieser Zeit nur von einzelnen Protestanten und Protestantinnen betont. Die ersten Auseinandersetzungen mit dem Staat Israel fanden aber vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit der Shoah statt, die Konflikte im Nahen Osten spielten dabei zunächst kaum eine Rolle. Es ging vor allem um die Frage der deutsch-israelischen Beziehungen.
Mildner-Misz: Der Nahostkonflikt wurde zum ersten Mal 1968 während des dritten israelisch-arabischen Krieges, der in Deutschland besser unter dem Namen Sechstagekrieg bekannt ist, in breiten Teilen der evangelischen Kirchen wahrgenommen. Der Staat Israel erfuhr hier große Solidarität. Begründet wird das vor allem in einem historisch moralischen Verantwortungsgedanken angesichts der Shoah. Viele Menschen sahen sich angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen für die Sicherheit von Jüdinnen und Juden in und außerhalb des Staates Israel verantwortlich. Im Protestantismus waren es vor allem Menschen, die im christlich-jüdischen Dialog aktiv waren und sich vom Antijudaismus distanzierten und eine Anerkennung des Judentums forderten.
Mildner-Misz: Im westdeutschen Protestantismus hat es nie eine einheitliche Meinung zum Nahostkonflikt gegeben. Die Stimmen zum Nahostkonflikt waren und sind auch gegenwärtig sehr vielfältig. Häufig ging es dabei aber nicht nur um politische Fragen, sondern auch um theologische Deutungen des Staates Israel und des Judentums. Die theologischen Differenzen haben maßgeblich zu einer Polarisierung des Themas im westdeutschen Protestantismus beigetragen. So hat es beispielsweise bereits 1967 eine öffentliche Debatte um den Nahostkonflikt gegeben. Der Westberliner Landesbischof Kurt Scharf rief zur Solidarität mit dem Staat Israel auf, den er als Teil der „Verheißung Gottes“ sah, und betont zugleich die bleibende Erwählung des Judentums. Widerspruch kam hier nicht etwa von proarabischen Stimmen, sondern von Kirchenvertretern, die daran festhielten, dass das Judentum von Gott verworfen sei und so eine religiös begründete Solidarität mit Jüdinnen und Juden oder dem Staat Israel ablehnten.
Auf der anderen Seite gab es auch propalästinensische Stimmen, insbesondere der Dachverband der Evangelischen Studentengemeinden. Er gehörte vor allem in den 1970er Jahren zu dem antizionistischen Teil der Neuen Linken. Er lehnte den Staat Israel ab, weil er diesen als imperialistisches Herrschaftssystem und Vorposten des Westens im Nahen Osten deutete. In diesem Deutungskontext wurde jede Beziehung zwischen dem Staat Israel und dem Judentum abgelehnt. Diese Haltung führte wiederum zu Konflikten mit Vertretern und Vertreterinnen des christlich-jüdischen Dialogs, die aufgrund der theologischen Anerkennung des Judentums und der Abkehr von antijudaistischen Narrationen die Beziehung zwischen Judentum und Land und Staat Israel ernst nehmen wollten.
Mildner-Misz: Gerade in der Gegenwart sehen wir, dass Religion bei der Polarisierung der Diskussionen um den Nahostkonflikt eine große Rolle spielt. Seit der ersten Intifada hat die islamistische Hamas im Nahostkonflikt an Bedeutung gewonnen. Dies wurde durch den brutalen Überfall auf israelische Zivilisten und Zivilistinnen am 7. Oktober 2023 deutlich. Auf der israelischen Seite verschärfen rechte jüdische Siedler und Siedlerinnen den Konflikt. Auch einige evangelikale Gruppen unterstützen die Siedlungspolitik aus religiös Gründen. So wird damit die Hoffnung verbunden, dass nach der Besiedelung der biblischen Gebiete Judäa und Samaria, die auch im Bereich des heutigen Westjordanlandes verortet werden, die Parusie Christi bevorstehe. Theologinnen und Theologen haben – meiner Meinung nach – die Verantwortung zu einer Differenzierung der Diskussion beizutragen. Das kann nur gelingen, wenn sie das Konfliktpotenzial theologischer Deutungsstreitigkeiten kennen und sich der Komplexität der Diskussion um den israelisch-palästinensischen Konflikt bewusst machen.
Die Fragen stellte Frank Grünberg, Kirchliche Hochschule Wuppertal