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Der “Verweis” – Die lebensförderliche Kraft zwischen den Polen

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Dr. Wolfram Jehle



Veröffentlicht am 13. Februar 2023

„Verweis“: ein Wort, zwei Bedeutungen. Bloßer Zufall? Oder liegt in der Doppeldeutigkeit eine erkenntnistheoretische Tiefe? Dieser Frage ist Dr. Wolfram Jehle in seiner Promotion an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal auf den Grund gegangen – mit überraschendem Ergebnis.

Energie braucht unterschiedliche Pole, um wirksam zu werden. Massen fallen mit der Schwerkraft von „oben“ nach „unten“. Der elektrische Strom fließt vom „negativen“ zum „positiven“ Pol. Gleiche Pole dagegen erzeugen keine Spannung. Sie setzen daher auch keine Bewegung frei.

Auch die menschliche Existenz kennt die Bewegung – zwischen den Aufs und Abs des Lebens, wie der Volksmund sagt. Welche Pole aber lösen diese Dynamik aus? Und wo lassen sich Hinweise auf diese Pole finden? Diesen Fragen folgend hat Dr. Wolfram Jehle den Begriff „Verweis“ auf den Prüfstand gestellt – und ihn im Rahmen seiner Promotion an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal für gut befunden.

Aus der Spannung lässt sich ein transformatorischer Aspekt ableiten

Jehle geht von der Beobachtung aus, dass im „Verweis“ zwei Bedeutungen nebeneinander liegen, die eine Spannung aufbauen: Der Verweis auf und der Verweis aus etwas, woraus sich unmittelbar ein dritter, transformatorischer Aspekt ableiten lässt: des Verweises in einen Prozess hinein. „Was auf den ersten Blick als bloßer Zufall erscheinen mag“, erklärt der Theologe, „bekommt bei genauerem Hinsehen eine erkenntnistheoretische Tiefe, die soziologisch, psychologisch, aber vor allem auch theologisch fruchtbar gemacht werden kann.“

Alle Verweis-Varianten zählen zur Alltagssprache. Negativ aufgeladen sind etwa Schul- oder Platzverweise. Hier werden Menschen gezwungen, gewohnte Inseln, Orte oder Routinen gegen ihren Willen zu verlassen. Positiv dagegen klingt der Verweis aus diesen Inseln heraus – auf einen Ausweg, auf ein Ziel oder auf eine Chance. „Gegenwartsphänomene wie Fremdenfeindlichkeit oder die scheinbare Ohnmacht gegenüber dem Klimawandel stützen sich nur auf den negativen Aspekt“, erklärt Jehle. „Nimmt man aber die anderen Aspekte als positiven Pol hinzu, dann wird die lebensförderliche Kraft von Verweisen erkennbar.“

„Wir sollten nicht länger der Vergangenheit nachtrauern.“

Diese Kraft erkennt Jehle auch in vielen Bibeltexten. So wie in der Emmaus-Geschichte, in der Jesus zwei Männern mit dem Verweis auf die Heilige Schrift hilft, ihre tiefe Traurigkeit über seinen vermeintlichen Tod in große Freude umzuwandeln. In diesem Sinne könne die Verweis-Dynamik auch die aktuellen Verlusterfahrungen der Kirchen, ausgelöst durch den anhaltenden Mitgliederschwund, in eine positive Perspektive lenken. „Wir sollten nicht länger der Vergangenheit nachtrauern“, sagt er. „Vielmehr plädiere ich dafür, nach den Verheißungen zu suchen, die in dieser Entwicklung stecken.“

Jehle versteht seine Arbeit nicht als Wissenschaft, die normierten Methoden unterliegt, sondern als einen theologischen Versuch. Seine Promotion hat er daher unter dem Titel „Im Verweis – ein theologisches Sprachspiel“ im LIT-Verlag (218 Seiten, 34,90 Euro, ISBN: 978-3-643-15200-8) veröffentlicht. Die Kategorien des Sprachspiels werden im Vollzug der Arbeit entwickelt. Es geht dabei um die Entwicklung einer Haltung, offen zu sein für das, was uns an Verweisen im Leben begegnet, überrascht zu werden, hineinzugeraten in Beziehungen zu Gott und der Welt, die wir nicht von uns aus als “Subjekt” steuern, die darum auch nicht nur unsere “Objekte” sind. „Ich plädiere generell dafür, sich angstfrei auf unkonventionelle Dinge einzulassen“, sagt er. „Nicht nur in der Forschung, sondern in allen Alltagsfragen.“