Veröffentlicht am 22. Juni 2022
Am 31. Mai 1934 veröffentlichten Mitglieder der Bekennenden Kirche die „Barmer Theologische Erklärung“. Damit setzten sie ein Zeichen des Widerstands gegen die erstarkenden Nationalsozialisten. Heute ist die Erklärung weltweit bekannt und zählt zu den wichtigsten Schriften des Protestantismus. Was aber bedeutet es, an einem historischen Ort wie diesem zu leben und zu arbeiten? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, luden die Kirchliche Hochschule Wuppertal und der Evangelische Kirchenkreis Wuppertal benachbarte Organisationen aus Bildung, Kultur, Religion, Politik und Wirtschaft am 31. Mai 2022 zu einem wegweisenden Gespräch in die Gemarker Kirche ein.
Vor rund einem Jahr nahm Jana Beck ihre Tätigkeit als Lehrerin für Geschichte, Religion und Philosophie am Gymnasium Sedanstraße im Wuppertal auf. Was sie sofort begeisterte: Das Lehrerzimmer eröffnete ihr den unmittelbaren Blick auf die Synagoge und die Gemarker Kirche in der Innenstadt von Barmen – beide Gebäude liegen talabwärts nur rund 200 Meter von der Schule entfernt. „Dieses Bild musste ich sofort meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen schicken“, erinnert sie sich. „Denn an diese Gebäude kann ich in meinem Unterricht unmittelbar anknüpfen.“
Diese Anekdote war eine von vielen, die es auf der Veranstaltung zu hören gab, zu der die Kirchliche Hochschule Wuppertal (KiHo) und der Evangelische Kirchenkreis Wuppertal am 31. Mai 2022 benachbarte Organisationen aus Bildung, Kultur, Religion, Politik und Wirtschaftgeladen hatten. Neben den Moderatorinnen Prof. Dr. Konstanze Kemnitzer, Rektorin der KiHo, und Barbara Herfurth, Leiterin des Ausstelungsprojektes „Gelebte Reformation. Barmer Theologische Erklärung“ nahmen Dr. Salvador Oberhaus (Förderverein Konsumgenossenschaft „Vorwärts“ Münzstraße e.V.), Thomas Helbig (Immobilien-Standort-Gemeinschaft ISG Barmen-Werth), Leonid Goldberg (Jüdische Kultusgemeinde Wuppertal), Jana Beck (Städtisches Gymnasium Sedansberg) sowie Suzan Öcal (Stadt Wuppertal) auf dem Podium teil.
Datum und Ort der Veranstaltung gingen auf die Veröffentlichung der Barmer Theologischen Erklärung (BTE) am 31. Mai 1934 in der Gemarker Kirche zurück. Die BTE ist ein Schlüsseltext für den deutschen und den weltweiten Protestantismus, mit dem sich die Bekennende Kirche gegen die Vereinnahmung von Kirche und Christentum durch die Nationalsozialisten wehrte und ein Zeichen des Widerstands setzte. 139 Delegierte aus ganz Deutschland formulierten an diesem Ort sechs Thesen, in denen sie ihr Bekenntnis zu Gott und zum evangelischen Glauben zum Ausdruck brachten.
2021 hatten die KiHo und der Kirchenkreis – ebenfalls in der Gemarker Kirche – einen Kooperationsvertrag unterzeichnet – mit dem Ziel, regelmäßig an die Bedeutung der BTE für Geschichte und Gegenwart zu erinnern. In diesem Jahr sollte das erstmals stattfindende Nachbarschaftsgespräch neue Ideen und Erkenntnisse zur BTE bringen. Was bedeutet es, im Umfeld eines historisch so bedeutsamen Ortes zu arbeiten? Was lässt sich aus der Geschichte dieses Ortes lernen? Wo liegt seine Relevanz für Wuppertal und darüber hinaus? lauteten die Leitfragen der Veranstaltung, die rund 30 Besucherinnen und Besucher fand.
Vor Beginn des Gesprächs führte Barbara Herfurth die Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch die Ausstellung, einige besuchten diese zum ersten Mal. Auf dem Podium waren sich anschließend alle einig, dass die Ausstellung für die lokale Bildungsarbeit Bedeutendes leisten kann.
Thomas Helbig schrieb der Gemarker Kirche zu, die Identität von Barmen durch das historische Alleinstellungsmerkmal der BTE zu stärken. Oberhaus betonte, dass Orte wie diese helfen, um Menschen gegen menschenfeindliche Gesinnungen zu immunisieren und sie dazu motivieren, sich stärker an politischen Prozessen zu beteiligen. Laut Öcal sei diese Kirche in der Lage, Menschen zu berühren und Identität zu stiften, weil man hier die Geschichte Wuppertals anhand von Geschichten erzählen könne, die genau hier geschehen sind. Goldberg unterstrich die Bedeutung des Ortes für die Vermittlung von Wurzeln und Werten. Beck hob schließlich hervor, dass die Gemarker Kirche ein hervorragender Ort sei, um die politische Dimension von Religion aufzuzeigen – sofern sie in der Lage ist, Widerstand zum Beispiel gegen Diktaturen zu organisieren und zu leisten.
Diese Potenziale werden auch dem Ulle-Hees-Denkmal zugeschrieben, das am 27.Mai 1984 auf dem Werth/Ecke Rödergasse aus Anlass des 50. Jahrestages der BTE in Sichtweite der Gemarker Kirche enthüllt wurde. Die Bronzeskulptur zeigt zwei Gruppen von Menschen: die einen zeigen den Nazi-Gruß, während die anderen sich um die Bibel, versammeln und in Richtung Gemarker Kirche blicken.
Eine Woche vor dem Nachbarschaftsgespräch, hatten KiHo und Kirchenkreis Passant*innen in der Barmer Fußgängerzone gefragt, welche Rolle das Denkmal zukünftig spielen solle – vor allem im Hinblick auf die Tatsache, dass die Fußgängerzone ab 2023 umgebaut werden soll. Die spannenden und vielfältigen Reaktionen zeigt dieses Video.
Herfurth und Kemnitzer hatten aktiv an der Befragung rund um das Ulle-Hees-Denkmal teilgenommen und dabei festgestellt, dass das Denkmal vor allem für junge Menschen nicht mehr in jedem Fall selbsterklärend sei. Kemnitzer schilderte die Reaktion eines 14-Jährigen, der vehement dafür plädierte, das Denkmal abzureißen, weil die Menschen dort ja den Hitlergruß zeigten. „Diesem Jugendlichen war offenbar nicht klar, dass das Denkmal ja im buchstäblichen Sinne auch eine andere Seite zeigte“, erzählte sie. „Hier wird die eigentliche Botschaft des Denkmals nicht mehr richtig verstanden.“
Im Nachbarschaftsgespräch warf sie daraufhin die Frage auf, wie sich Bildungsarbeit rund um die Gemarker Kirche und die BTE verändern sollte, um künftig noch mehr Potenzial zu entfalten. Auf und vor dem Podium trugen die Anwesenden ihre Ideen zusammen: angefangen bei dem Vorschlag, die Thesen der BTE immer wieder neu zu lesen und die politische Rolle von Religion zu diskutieren, bis hin zu dem Vorschlag, das Ulle-Hees-Denkmal nahbarer zu machen. „Warum installiert man rund um das Denkmal nicht einen QR-Code, mit dem sich alle Informationen rund um das Denkmal per Smartphone abrufen lassen, und Sitzgelegenheiten, die zum Verweilen einladen?“, meinte ein Teilnehmer. „Durch eine gezielte Beleuchtung ließe sich die Aufmerksamkeit für das Denkmal ebenfalls steigern.“
Einig waren sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer darin, dass die Bildungsarbeit künftig nicht nur Schülerinnen und Schüler adressieren sollte, sondern auch jene Menschen, die neu nach Wuppertal kommen: aus beruflichen oder familiären Gründen oder weil sie vor Krieg und Zerstörung aus ihrer Heimat fliehen. „Warum führen wir nicht auch die Flüchtlinge in Wuppertal an diesen Ort?“, regte Goldberg an, der selbst 1977 nach Wuppertal kam und viele Jahre nichts über die BTE wusste. „Damit könnten wir ihnen sehr schnell sehr viel über die Stadt erklären, in der sie für unabsehbare Zeit leben.“
Zum Zeitpunkt des Nachbarschaftsgespräches lebten rund 4.400 Menschen in Wuppertal, die vor den Folgen der russischen Invasion aus der Ukraine geflüchtet waren. Vor diesem Hintergrund regte Goldberg an, diese Menschen vermehrt durch die Ausstellung zu führen. „Rund um die Gemarker Kirche könnten sie schließlich viel darüber erfahren, welche Erfahrungen die Menschen in Deutschland einst mit Diktatur, Rassismus, Krieg und Zerstörung machten“, sagte er. Die Barmer Innenstadt könnte damit ein wichtiger Ort für Bildung, Begegnung und gegenseitiges Kennenlernen werden.