.
Veröffentlicht am 20. November 2023
Vom 20. bis 22. Oktober 2023 fand an der Kirchlichen Hochschule (KiHo) Wuppertal unter dem Titel „Der Klimawandel als gesellschaftliche Herausforderung“ ein Interdisziplinäres Forum statt. Das Interview mit der Mitorganisatorin Dr. Birgitta Weinhardt sowie die Videomitschnitte und Zusammenfassungen der Vorträge finden Sie hier.
Erst einmal muss sich die Theologie selbst die Frage stellen, was sie zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe des Klimaschutzes beitragen kann. In den letzten Jahrzehnten wurde dem Christentum kulturgeschichtlich eine Mitverantwortung am problematischen Umgang mit der Natur zugeschrieben. Das wurde damit begründet, dass in der Schöpfungserzählung von Gen 1 der Mensch als Herrscher über die Geschöpfe eingesetzt werde. Deswegen habe sich nicht zufällig im christlichen Europa die Naturwissenschaft entwickelt, die mithilfe der Technik dem Menschen die Natur tatsächlich „untertan“ gemacht habe. Wie auch immer es um den Wahrheitsgehalt dieser Erzählung steht, ist die Theologie schon alleine ihretwegen auskunftspflichtig darüber, wie sie es heute mit der Natur halten will. Die wesentliche Frage lautet dabei: Wie könnte die Schöpfungsethik für eine verantwortliche Umweltethik fruchtbar gemacht werden?
Die gemeinsame Botschaft lautet: Es eilt!
Die Fragen lauten: Was müssen wir wissen, um die Klimakrise entschärfen zu können? Was können wir tun, um dieses Wissen weiterzugeben und anzuwenden? Welche Hoffnungen dürfen wir hegen, die Klimaziele noch einhalten zu können? Da die Klimakrise ein sehr komplexes Problem darstellt, das auch in Wechselwirkung zu anderen Krisenphänomenen steht, bewegt man sich hier in einem weiten Horizont. Der interdisziplinäre Dialog ist daher besonders wichtig, wenn man die Gesellschaft für das Thema Klimaschutz stärker sensibilisieren möchte.
Dr. Birgitta Weinhardt: “Die Klimakrise stellt ein Problem dar, das nicht allein von einer Fachdisziplin zu lösen ist.”
Die gemeinsame Botschaft lautet dabei: Es eilt!
Meines Erachtens verbietet es diese Thematik, in den alten Konfliktlinien zwischen Naturwissenschaften und Theologie zu denken wie in den science wars der 1990er Jahre. Auch die übliche Zwei-Getrennte-Welten-Annahme, die in der Folge des Existentialismus lange galt und in der Evangelischen Theologie besonders mit den Namen Barth und Bultmann verknüpft ist, scheint mir heute nicht mehr zeitgemäß. Ganz im Gegenteil: Die Klimakrise stellt ein Problem dar, das nicht allein von einer Fachdisziplin zu lösen ist. Die Naturwissenschaften sollen möglichst exakt ermitteln, wie sich das Klima zukünftig innerhalb verschiedener Rahmenbedingungen verändern wird und in welchem Zeitraum. Auf dieser Grundlage sollen die Geisteswissenschaften ethische Maßnahmen und politische Konsequenzen entwickeln und reflektieren. Die Naturwissenschaften können daraufhin über die Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen berichten. Insbesondere muss wenigstens der überwiegende Teil der Gesellschaft in diesen Prozessen mitgenommen werden. Dies stellt eine herausragende pädagogische und politische Aufgabe dar.
Grundsätzlich ist die Veranstaltung für alle Menschen gedacht, die sich mit der Klimakrise und ihren Folgen auseinandersetzen wollen. Speziell dürften Wissenschaftler*innen, Studierende, Lehrkräfte und andere Multiplikatoren von der Tagung profitieren.
Für Studierende ist es wohl immer eine Bereicherung, wenn sie über den Tellerrand des eigenen Faches blicken dürfen. Die Theologie hat ja auch ihrerseits ein großes Interesse daran, ihre eigenen Inhalte in die heutige Zeit zu übersetzen. Dazu ist die Kenntnis der gesellschaftlichen Debatten, aber auch der verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven unverzichtbar.
Alle Informationen zum Programm und zur Anmeldung zum Interdisziplinären Forum finden sich >>> hier >>>.
Im Oktober 2021 fand an der KiHo Wuppertal ein Interdisziplinäres Forum unter dem Titel “Raum. Interdisziplinäre Aspekte zum Verständnis von Raum und Räumen” statt. Die Videomitschnitte und Zusammenfassungen der Vorträge finden sich >>> hier >>>.
Vortrag von Prof. Dr. Janpeter Schilling, Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin, im Rahmen des Interdisziplinären Forums „Der Klimawandel als gesellschaftliche Herausforderung“ am 20. Oktober 2023 an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal
Der Beitrag geht der Frage nach, für wen Klimagerechtigkeit wichtig ist, wie sie aussehen kann und wann sie umgesetzt werden könnte. Nach einer kurzen Einschätzung zum bisherigen Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur wird der Begriff Klimagerechtigkeit geklärt, um im Anschluss auf die folgenden drei Dimensionen von Klimagerechtigkeit einzugehen:
Der Fokus des Beitrags liegt dabei auf der ersten Dimension. Im Fazit wird betont, dass der Klimawandel sowohl zu geographischen Ungerechtigkeiten, insbesondere zwischen Ländern des Globalen Nordens und des Globalen Südens, als auch zu zeitlichen Ungerechtigkeiten zwischen Klimawandel-verursachenden Generationen und jenen, die davon betroffen sind, führt. Um mehr Klimagerechtigkeit kurzfristig zu erreichen, müssen reichere Länder ihre finanziellen Zusagen an besonders vom Klimawandel betroffene Länder einhalten und erhöhen. Mittelfristig ist eine Dekarbonisierung der Weltwirtschaft entscheidend. Langfristig müssen strukturelle Benachteiligungen des Globalen Südens durch den Globalen Norden in allen Bereichen (Handel, Finanzen, Wirtschaft, Geopolitik, Energie) abgebaut werden. Das würde nicht nur zu mehr Klimagerechtigkeit, sondern einer verbesserten globalen Gerechtigkeit insgesamt führen.
Vortrag von Prof. Dr. Martin Riese, Institut für Energie- und Klimaforschung am Forschungszentrum Jülich, im Rahmen des Interdisziplinären Forums „Der Klimawandel als gesellschaftliche Herausforderung“ am 21. Oktober 2023 an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal
Der Zustand des Klimasystems wird in den Berichten des zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC) in regelmäßigen Abständen beschrieben. Der Ausschuss, auch als Weltklimarat bekannt, wurde 1988 vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) und der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) gegründet und hat seinen Sitz in Genf. Für den aktuellen IPCC-Bericht aus dem Jahr 2022 haben 234 ehrenamtliche Autor*innen aus 65 Ländern die Ergebnisse aus ca. 14.000 begutachteten Publikationen zusammengefasst.
Der Vortrag gibt einen Überblick über die wichtigsten Ergebnisse, die auch als Grundlage für wissenschaftsbasierte Entscheidungen für die Politik dienen. Ergänzend werden Ergebnisse gezeigt, die in der Broschüre „Was wir heute über das Klima wissen“ vom Deutschen Klimakonsortium, der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft und dem Deutschen Wetterdienst veröffentlicht wurden. Schließlich geht der Vortrag auf physikalische Prozesse ein, die hinter dem Klimawandel stehen, sowie aktuelle Forschungsaktivitäten.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der aktuelle Klimawandel beispiellos und vom Menschen verursacht ist. Die systematische Änderung der global gemittelten Bodentemperatur in den letzten 100 Jahren betragen bereits 1.2 Grad Celsius. Diese systematische Temperaturänderung wird nur von Klimasimulationen reproduziert, welche die Einflussfaktoren des Menschen (anthropogene Einflüsse) berücksichtigen. Der Klimawandel äußert sich auch in anderen Größen, wie dem Anstieg des Meeresspiegels, dem Rückgang des Arktischen Sommer-Meereises oder dem Rückgang der Gletschermasse. Der Klimawandel fällt in unterschiedlichen Regionen unterschiedlich aus. Er ist in der Arktis besonders stark ausgeprägt. Die grundlegenden Mechanismen des Klimawandels sind gut verstanden, es gibt aber noch Unsicherheiten bei der Klimasensitivität, d. h. bei der Verstärkung des Treibhauseffekts durch Feedbackprozesse (z.B. Wasserdampf und Wolken). Für regionale Klimaänderungen sind darüber hinaus dynamische Feedbacks, d.h. Änderungen von Zirkulations- und Wettersystemen wichtig.
Vortrag von Dr. Heike Baranzke, Lehrbeauftragte für Theologische Ethik an der Bergischen Universität Wuppertal, im Rahmen des Interdisziplinären Forums „Der Klimawandel als gesellschaftliche Herausforderung“ am 21. Oktober 2023 an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal.
Heike Baranzke begann ihren Vortrag mit alarmierenden Ergebnissen von Biomassenstudien einer israelisch-US-amerikanischen Forschergruppe. Sie berichteten 2018, dass der Mensch und seine Nutz- und Haustiere 96% der Biomasse auf der Erde bilden, während alle anderen Säugetiere zusammen lediglich noch 4% ausmachen. Bei den Vögeln entfallen 70% der Biomasse auf die wenigen domestizierten Geflügelarten, während tausende Arten von Wildvögeln insgesamt nur noch 30% an Vogelbiomasse auf die Waage bringen. Auch ein anderer Zahlenvergleich verdeutlicht die exorbitante weltumspannende Wirkung des Menschen: Obwohl 7,6 Milliarden Menschen nur 0,01% der gesamten Biomasse auf der Erdeausmachen, haben sie 83% der Biomasse „aller wild lebenden Säugetiere und die Hälfte aller Pflanzen verschwinden lassen. Zwei Jahre später machte die Forschungsgruppe erneut Schlagzeilen mit der Feststellung, dass 2020 erstmals die Technosphäre das Trockengewicht aller lebenden und natürlichen Komponenten unseres Planeten überwog.
Hatten die vorhergehenden Vorträge auf die sozialen Folgen und die physikochemischen Prozesse der menschengemachten Erderwärmung fokussiert, so rückte die Ethikerin die Effekte des Anthropozäns für die Biodiversität in den Vordergrund. Dabei verwies sie auf zwei Aspekte, die es dem Menschen erschweren, sich selbst als geologischen Wirkfaktor zu begreifen, nämlich zum einen die Tatsache, dass er binnen weniger Jahrhunderte geologische Fossilierungs- und biologische Artentwicklungsprozesse zunichte macht, die sich in Jahrmillionen vollzogen haben, und ferner, dass aufgrund eines rasant geschwundenen Wissens um Tier- und Pflanzenarten sowie ökologische Zusammenhänge die basalen Fähigkeiten zur Wahrnehmung seiner Handlungsfolgen erodiert sind, nämlich eine solide Artenkenntnis und Artenbestimmungsfähigkeit sowie ein Naturverständnis. Nicht zuletzt befördert die Fokussierung auf den technischen Sachverstand eine zunehmende Entfremdung von der natürlichen Mitwelt. Somit bleibt die rasante Verarmung der belebten Umwelt weitgehend unbemerkt.
Die Befunde der Biomassenstudien zeigen den enormen naturverdrängenden Effekt der landwirtschaftlichen Fleischerzeugung durch Flächenverbrauch. Zugleich haben Studien gezeigt, welch hohen Anteil die globale und noch stark wachsende Fleisch- und Milchwirtschaft an der Treibhausgasemission besitzt. Da die Nutzung von Tieren zu menschlichen Ernährungszwecken auch von der Tierrechtsbewegung kritisiert wird, liegt die Hoffnung nahe, dass diese starke soziale Bewegung dem schwindenden Naturverhältnis entgegensteuern könnte. Doch Baranzke zeigte, dass nicht nur die auf Haus-, Nutz- und Versuchstiere konzentrierte Tierschutzbewegung des 19. Jahrhunderts, sondern auch der der neuen Tierrechtsbewegung seit den 1970er Jahren zugrunde liegende Szientismus, liberalistische Individualismus und hedonistische Sentientismus einem ökologisch informierten Naturverständnis letztlich entgegenstehen. Schon die begriffliche Ersetzung der traditionellen Anthropozentrik- durch die sog. „Speziesismus“-Kritik indiziert mit der Biologisierung des Menschen das Verschwinden eines humanistischen Menschenbildes. Stattdessen stellen die jeglicher naturteleologischen Sinnorientierung entkleideten experimentellen Naturwissenschaften sowohl in den Klimawissenschaften als auch in der durch die modernen Life-Sciences geformten Tierrechtsbewegung die Weichen für technokratische Lösungen: sei es in Form von Geo- oder Bioengineering, um entweder der menschengemachten Erderwärmung Herr zu werden oder gar durch gentechnisch „enhancte“ Raubtiere eine leidfreie Welt zu schaffen. Am Beispiel von Hartmut Kiewerts 2019 entstandenen Gemälde „Picknick III“ aus seinem Zyklus „Animal Utopia“ fragte Baranzke abschließend nach der Möglichkeit eines handlungsleitenden umfassenden Naturverständnis in unserer naturvergessenen, menschengemachten Krisenzeit und eröffnete mit Meister Bertrams „Erschaffung der Tiere“ die Frage nach theologischen Schöpfungsperspektiven.
Vortrag von Prof. Dr. Alexander Weihs, Institut für Katholische Theologie der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, im Rahmen des Interdisziplinären Forums „Der Klimawandel als gesellschaftliche Herausforderung“ am 21. Oktober 2023 an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal.
Bildung wird im Horizont der Bemühungen, der Klimakrise entgegenzutreten, ein enormer Stellenwert zugesprochen. Das Konzept „Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)“ hat die allgemeinbildenden Institutionen in Deutschland – zumindest der Papierform nach – nahezu flächendeckend erreicht, wobei BNE als Aufgabe grundsätzlich aller Schulfächer angesehen wird.
Die aktuelle Religionspädagogik kann die Relevanz religiöser Bildungsprozesse und des schulischen Religionsunterrichts in diesem Horizont nachdrücklich vor Augen führen. Wichtige Impulse sind auf gleich mehreren Ebenen angesiedelt: So können im Zuge einschlägiger Bildungsprozesse (erstens) spezifische anthropologische, eschatologische und soteriologische Perspektiven wirksam werden, (zweitens) bestimmte weiterführende Verhaltensoptionen kennengelernt und erprobt werden und (drittens) Erfahrungen mit selbstbestimmten Prozessen lebensorientierender Relevanz gesammelt werden.
Unter den inhaltlichen Perspektiven kommen der Schöpfungsthematik und der Eschatologie besondere Bedeutung zu: Die Schöpfungstheologie kann auf das grundlegende Eingebundensein des Menschen in seine Um- und Mitwelt hinweisen und zu einem biophilen Bewusstsein anregen. Die Eschatologie wirbt für das Einstimmen in die Liebe Gottes und die Bereitschaft, diese Liebe sowohl als Solidarität mit den aktuellen Opfern des Klimawandels als auch im Sinne einer intergenerationalen Klimagerechtigkeit zu verwirklichen.
Im Bereich der zu reflektierenden Verhaltensoptionen kann das Kennenlernen des Phänomens des „prophetischen Protests“ ebenso Wirkung entfalten wie die komplementäre Haltung der empathischen und diskursbereiten „Hörbereitschaft“. Auf diesen und weiteren Wegen ermöglicht der Religionsunterricht Raum für persönliche Reflexionsprozesse potenziell lebensorientierender Qualität. Er kann den Rahmen dazu bieten, Aspekte des Klimadiskurses und Problemstellungen der Nachhaltigkeitsthematik nicht nur zu diskutieren, sondern auch wertend auf der je persönlichen Landkarte der eigenen Lebensausrichtung zu verorten.
Auf dieser Grundlage können Entwürfe eines „guten Lebens“ erwogen werden, die unter den Vorzeichen von Suffizienz und biophiler Lebenseinstellung als persönlich tragfähig und Glück verheißend erscheinen. Unter dem Blickwinkel biographischen Lernens an anderen Menschen wäre es wünschenswert, wenn man an möglichst vielen Beispielen zeigen könnte, dass eine Orientierung an den Prinzipien der Nachhaltigkeit in geglückten und attraktiven Lebensentwürfen tatsächlich und überzeugend gelebt werden kann.
Vortrag von Dr. Birgitta Weinhardt, Lehrstuhl für Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, im Rahmen des Interdisziplinären Forums „Der Klimawandel als gesellschaftliche Herausforderung“ am 22. Oktober 2023 an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal.
Hans Jonas großes Werk von 1979 über Das Prinzip Verantwortung erfährt durch die aktuellen Klimaproteste erneut eine große Aufmerksamkeit. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass eines der bekanntesten Gesichter der Bewegung Fridays for Future, Luisa Neubauer, dieses Buch bei der Räumung des Ortes Lützerath wirkungsvoll in die Kameras hielt. Allerdings gibt es bezüglich des Prinzips Verantwortung auch immer wieder kritische Stimmen, die in der Jonas’schen Verantwortungsethik ein totalitäres Denken erkennen wollen, wie etwa Robert Habeck in seinem Nachwort in der Suhrkamp Neuauflage dieses Werks. Der Vortrag setzt sich mit diesem Vorwurf auseinander, indem die Ausführungen von Jonas über die Vorteile und Nachteile des Marxismus und einer Demokratie herausgestellt werden. Zuvor werden jedoch noch frühere Werke von Jonas herangezogen, um den Denkweg zu seinem opus magnum nachvollziehen zu können.
Seine Studien zur Gnosis bilden dabei den Ausgangspunkt. Hier entdeckt Jonas als gemeinsames Grunderlebnis eine grundsätzliche Weltverachtung bzw. Weltangst, die mit einer starken Entweltlichungstendenz einhergehe und letztlich zu einem Nihilismus führe. Jonas, der stark durch seine Lehrer Heidegger und Bultmann geprägt war, entdeckte dabei eine Parallele zur existentialistischen Philosophie: Auch sie vernachlässige die Natur vollständig, indem sie den Menschen nicht in den Naturzusammenhang einzeichnete, sondern ihn ihr geradezu entgegensetzte. Diese starke Naturvernachlässigung führe ebenfalls zu einem kosmischen Nihilismus. Jonas kritisierte in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass er in seinem Studium von keinem seiner Lehrer dazu aufgefordert wurde, vom aktuellen Stand der Naturwissenschaften Kenntnis zu nehmen.
In seinem Werk Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie möchte Jonas die Naturvergessenheit und den damit einhergehenden Nihilismus überwinden. Dafür entwickelt er zum einen eine teleologische Lesart der Evolutionstheorie, zum anderen wendet er die existentialistische Philosophie auf die gesamte belebte Natur an. Mit dieser Erweiterung ist dann nicht nur der Mensch ein Wesen mit Innerlichkeit und größter Daseinssorge, sondern alle Tiere und Pflanzen bis hin zur Amöbe.
Im Prinzip Verantwortung tauchen diese metaphysischen Überlegungen bei der Begründung der Ethik wieder auf. Das Axiom einer Pflicht zur Zukunft als allgemeine Menschenpflicht begründet Jonas zwar zunächst nur empirisch: Da sich jeder Mensch seinen eigenen Nachkommen verpflichtet fühle, könne diese Verpflichtung für nachkommende Generationen verallgemeinert werden. Da aber die theoretische Möglichkeit bestehe, auf Nachkommen zu verzichten, brauche die Ethik auch noch eine metaphysische Begründung. Hierfür bezieht er sich auf den antiken Satz, wonach das Sein besser ist als das Nichtsein. Dies gilt nach Jonas auch vom Sein des menschlichen Individuums. Darüber hinaus greift er auch seine teleologischen Überlegungen aus Organismus und Freiheit wieder auf: In einer längeren Erörterung über den Begriff des Zwecks soll die menschliche Existenzweise in eine sehr enge Kontinuität mit den nichtmenschlichen Lebewesen gebracht werden. Jonas behauptet, dass das menschliche Gehen, aber auch viel komplexere Verhaltensweisen offensichtlich zweckhaft seien. Zwecke werden durch den Willen gesetzt, um die entsprechenden Verhaltensweisen zur Erreichung eines bestimmten Willensziels zu organisieren. Auch das tierische Verhalten sehe nicht nur so zweckhaft aus wie das menschliche, sondern es sei tatsächlich zweckhaft, wenn auch auf einem elementareren Niveau. Diese metaphysische Begründung der Ethik soll also den kategorialen Unterschied von Menschen und anderen Lebewesen relativieren. Das nicht-menschliche Leben gewinnt eine Aufwertung, wodurch Pflanzen und Tiere in eine strukturelle Gleichheit oder wenigstens Vergleichbarkeit mit homo sapiens rücken. Jonas möchte damit eine ausschließlich anthropozentrische Grundlage der Ethik vermeiden.