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Evangelikale Bekenntnisschulen: Explorationsstudie zum Lehrerhabitus

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Prof. Dr. Konstanze Kemnitzer, Dr. Matthias Roser



Veröffentlicht am 21. Juni 2023

Während die Volkskirchen und manch andere über Jahrzehnte als stabil geltende Institutionen erodieren, tummeln sich vielfältige alte und neue religiöse Anbieter auf dem wachsenden spirituellen Markt. In dieser gesellschaftlichen Metamorphose stehen Menschen vor der Herausforderung, ihre eigene Berufsidentität zu stabilisieren oder erst zu finden. Dies evoziert ökologisch-differentielle praktisch-theologische Forschungsbedarfe zum Thema “Evangelikale Bekenntnisschulen”.

Prof. Dr. Konstanze Kemnitzer, Inhaberin des Lehrstuhls für praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, und ihr Assistent Dr. Matthias Roser haben daher eine Interview-Studie mit Lehrerinnen und Lehrern evangelikaler Bekenntnisschulen durchgeführt. Die Ergebnisse präsentieren sie in dem Buch “Spirituelle Identitätsperformanzen. Eine Explorationsstudie zum Lehrerhabitus an evangelikalen Bekenntnisschulen” als expressives Explorationsfeld und diskutieren die Ergebnisse vor dem Hintergrund der aktuellen Herausforderungen professionsspezifischer, spiritueller Identitätsperformanz.

Alle Informationen zur als Buch erschienenen Studie finden sich >>> hier >>>.

Interview

“Die Trennung von Privatem und Beruflichem erscheint bei vielen Lehrkräften aufgehoben zu sein.”

Prof. Dr. Konstanze Kemnitzer und Dr. Matthias Roser beantworten Fragen zu ihrem Forschungsprojekt.

Warum haben Sie die Interview-Studie mit Lehrerinnen und Lehrern evangelikaler Bekenntnisschulen durchgeführt.

Konstanze Kemnitzer: Im Rahmen unserer Vortrags-Reihe „Religionspädagogische Denkräume“ an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal hatten wir Peter Dück, den Vorsitzenden des Verbandes Evangelischer Bekenntnisschulen und Geschäftsführer des christlichen Schulvereins Lippe e.V., Trägerverein der August-Hermann-Francke Schulen und Kitas in Lippe, zu Gast. Er sprach über evangelikale Bekenntnisschulen und hat uns anschließend ermöglicht, viele Fragen zu stellen. Dabei wurde deutlich, dass die evangelikalen Schulen, von denen er sprach, in allen Schulfächern Lehrer*innen einsetzen, die nicht nur ihren Schulstoff unterrichten, sondern in besondere Weise das Glaubensverständnis ihrer Schule alltäglich mit Leben füllen, also evangelikale Frömmigkeit professionell im Schulalltag performen.

Uns hat interessiert, wie diese Lehrer*innen das machen und ob sich an diesem speziellen Feld Grundfragen erkennen lassen, die für alle interessant sind, die Spiritualität im Berufsalltag professionell performen. Uns reizte also beides: Zum einen das Forschen in einer sehr speziellen Schulart, die nicht nach volkskirchlichen und auch nicht nach staatlichen sondern eben nach evangelikalen Logiken funktioniert und auf der anderen Seite das grundsätzliche Forschen über die Veränderungen im Feld der religiösen Berufe, in der zunehmenden „Commodifizierung“.

“Während die Volkskirchen als stabil geltende Institutionen Mitglieder verlieren, wächst die Zahl alternativer Angebote.”

Dieser Forschungsbegriff ist für den Ansatz wichtig: Commodifizierung des religiösen Feldes meint: Während die Volkskirchen und manch andere über Jahrzehnte als stabil geltende Institutionen Mitglieder verlieren, wächst die Zahl alternativer Angebote, neuer religiöser Marken, „brandings of faith“. Das hat Auswirkungen auf alle Arbeitnehmenden, die professionell im religiösen Feld tätig sind: Sie werden – zumindest von außen – als Performer*innen von religiösen Marken wahrgenommen und tragen durch ihre persönliche Dienstleistung und Selbstdarstellung zum Erfolg oder auch Misserfolg der entsprechenden Marke bei, zum Beispiel eben einer evangelikalen Schule auf dem Bildungsmarkt, aber auch zum Beispile als landeskirchliche Pfarrer*innen zur Wirkung der „Marke Evangelische Kirche“. Uns hat interessiert, was eine Untersuchung in einer sehr spezifischen Nische der professionellen Spiritualitätsperformanzen, den evangelikalen Bekenntnisschulen, zu solchen grundsätzlichen Herausforderungen im aktuellen Kulturwandel beitragen kann.

Welche Ergebnisse haben Sie erzielt?

Konstanze Kemnitzer: Wir haben viele Aussagen der Lehrer*innen an evangelikalen Bekenntnisschulen erhoben zu deren pädagogischen Selbstverständnis, zu ihrem Umgang mit fachdidaktischen Fragestellungen (zum Beispiel wie in einer Schule mit evangelikalem Bekenntnis Evolutions- und Schöpfungslehre im Biologieunterricht ins Verhältnis gebracht werden), zu ihrem Selbstbild als gläubige Lehrpersonen, zu ihrer Sicht auf ihre Schüler*innen und auch auf deren Eltern, auf Gemeindehintergründe und kulturelle Beheimatungen. Besonders interessant waren die Aussagen der Lehrkräfte zu Taufe, Gebet, Nachfolge, göttlicher Führung, frommen Selbstbewusstsein, Bekenntnis und Widerstand – und immer dabei: Wie das alles im Schulalltag konkret wird, wie sie das auf den Bühnen des beruflichen Lebens miteinander „performen“. Dabei sind mehrere Grundfragen spiritueller Identitäts-Darstellungen deutlich geworden, zum Beispiel die Spannung zwischen persönlichem Glaubensbekenntnis und offiziellen Bekenntnis evangelikaler Schulen.

“Die Lehrkräfte verstehen ihr Denken und Handeln als ganzheitliches Glaubenszeugnis.”

Matthias Roser: Dass wir so tiefgehend mit den Lehrer*innen ins Gespräch kommen konnten, war keine Selbstverständlichkeit. Darum sind wir sehr dankbar, dass wir die Studie an den August-Francke-Schulen in Ostwestfalen-Lippe durchführen konnten. Besonders spannend war dabei, dass vordergründig für die Lehrkräfte klassische konfessionelle Grenzen kaum mehr eine Rolle spielen. Die Lehrkräfte wissen ihren Lehrerhabitus und ihre Lehrerprofessionalität von einer transdenominationellen „Jesus-Frömmigkeit“ her „formatiert“ und „angeleitet“. Der historische Jesus ist für sie ein Vorbild, mit dem sie als Gebetsgemeinschaften gemeinsam verbunden sind, dem sie Rede und Antwort stehen wollen, und von dem sie auch stetige Ermutigung und Stärkung erhoffen. Zentral für die Lehrkräfte erscheint dabei die Vorstellung ihrer eigenen, lebenslangen persönlichen Beziehung als Jünger*innen zu ihrem Freund und Lehrer Jesus.  Die Lehrkräfte verstehen ihr Denken und Handeln – bis in die Dimensionen der einzelnen Fachdidaktiken hinein – als ganzheitliches „Glaubenszeugnis“ und „Glaubensaussage“ („speaking is believing“).

Die Trennung von „Privatem“ und „Beruflichen“ erscheint bei vielen Lehrkräften nach eigner Aussage bewusst und reflektiert aufgehoben zu sein. Die Lehrkräfte verstehen sich selbst in gewisser Weise als „Performer*innen“, vielleicht auch „Lizenznehmer*innen“ eines vom Gesamtverband der August-Hermann-Francke-Schulen vordefinierten, wertekonservativen „branding of faith“. Sie sehen es als ihre Aufgabe und Freude an, das vordefinierte, wertekonservative „branding of faith“ der August-Hermann-Francke-Schulen aktiv mitzugestalten, benennen aber in diesem Zusammenhang auch explizit die Herausforderungen und Drucksituationen dieser Aufgabe. Um Mission geht es dabei weniger. Die Lehrkräfte sehen sich – mit Blick auf die Schüler*innen – weniger als „Konversionsagenten“, Schule und Unterricht sind für sie eher der Versuch, eine Jesus bezogene Realität zu leben, die sich – wie sie hoffen – für die Schüler*innen auch jenseits der Schule, als „wahr“ und tragfähig erweisen soll. Von daher kommen Schulleben und Unterricht die Aufgabe zu, eine Immersion in diese Jesus bezogene, wertekonservative Welt zu ermöglichen und diesen Weg durch entsprechende unterrichtliche Settings zu steuern.

Welche Ergebnisse haben Sie besonders überrascht?

Matthias Roser: Die Ergebnisse unserer Studie waren für uns in mehrerer Hinsicht überraschend:  Zum einen ist es den „evangelikalen Bekenntnisschulen“ offensichtlich gelungen, ihre historisch bedingte Verortung im Milieu russlanddeutscher Spätaussiedler zu verlassen. Sie sind auf dem Weg in eine allgemeine gesellschaftspolitische und schulpolitische Anschlussfähigkeit. Dieser „Exodus“ wird sicherlich vom allgemein beobachtbaren „Trend zur Privatschule“ begünstigt. Interessanterweise gelingt dabei diese Anschlussfähigkeit durch die von den Schulen als ihr „branding“ hervorgehobene „Wertorientierung“. Diese „Wertorientierung“ kann dabei als „Wertekonservativismus“ genauer beschrieben werden, mit Anklängen an den Wertekonservativismus der 1950er und 1960er Jahre. Klassische „evangelikale“ Glaubensaussagen werden diesbezüglich überraschender Weise sogar zurückgestellt, wie in einer Art „wertekonservativem Refraiming“. Ein Leitmotiv ist dabei „Freiheit nach Grundgesetz Artikel 7,4“. Entsprechend betonen die Lehrkräfte das Selbstverständnis ihrer Schulen als „freie evangelische Schulen“ auf der Basis des Bekenntnisses der Evangelischen Allianz.

„Den evangelikalen Bekenntnisschulen ist es gelungen, ihre historisch bedingte Verortung im Milieu russlanddeutscher Spätaussiedler zu verlassen.”

Konstanze Kemnitzer: Außerdem war besonders auffällig, wie sehr die Inszenierung des eigenen Glaubens im Schulalltag als Gegenwelt zur gesellschaftlichen Perspektivenvielfalt erlebt wird und mit wie viel Sorge von einigen Lehrkräften auf die gesellschaftliche Fragmentierung und den Verlust eines gemeinsamen gesellschaftlichen Wertekonsenses geblickt wird. Die eigene Schule und das Miteinander als frommer Lehrkörper wird als „heile“ oder zumindest „heilere Welt“  erlebt, für die die Interviewten dankbar sind – und zugleich ist den Lehrkräften wichtig, die Schüler*innen für ein Leben auch jenseits der Schule vorzubereiten, in einer Gesellschaft, auf die sie mit zahlreichen Bedenken blicken und in der sie sich selbst und ihre Schulen vielfältig kritisiert oder sogar argwöhnisch beäugt erleben.

Mich hat überrascht, wie sehr spirituell verankerte Berufsgestaltung, professionelle Identitätsperformanz im religiösen Feld, heute scheinbar fast zwangsläufig mit politischen Themen und Zuschreibungen von politischen Gesinnungen, von außen und von innen, verbunden ist. So sehr von den Lehrkräften darauf insistiert wird, es gehe ihnen im Schulalltag um Glaubensinhalte, um Jesus, um Gott, geht es doch in der Ausstrahlung ihrer Arbeit und in der Vermarktung, im brandig of faith ihrer Schulen, stets um die Profilierung von politisch polarisierenden Werten. Aus volkskirchlicher Perspektive ist umso mehr zu fragen, ob diese Dynamik in der Commodifizierung des religiösen Feldes auch anders gestaltet werden kann, also ob es überhaupt gelingen kann in diesen Markenbildungsprozessen plural und agil zu bleiben und sich dem steigenden Druck des Werte-Fraimings zu entziehen, um die Polarisierung und Fragmentierung der Gesellschaft nicht immer weiter zu befeuern.

Welche Konsequenzen zeitigen die Ergebnisse Ihrer Meinung nach für die Landeskirchen?

Konstanze Kemnitzer: Menschen, die in Berufen arbeiten, in denen erwartet wird, dass sie professionell ihre Spiritualität performen, brauchen vielfältige Unterstützung. Mehr denn je müssen sie durch Bildung dazu befähigt werden, sich kritisch und konstruktiv zu verschiedenen institutionellen und privaten Credos verhalten zu können. Sie brauchen Unterstützung dabei, mit den Vorder- und Hinterbühnen der Selbstinszenierung im religiös konnotierten Beruf sensibel umzugehen – sensibel für die eigenen Schutzbedürfnisse und die von anderen Menschen. Außerdem muss, gerade dann, wenn sich durch Absinken der Kirchensteuereinnahmen die finanziellen Wege ändern und z.B. Projektarbeit durch Sponsoring etc. gefördert werden soll, darauf geachtet werden, woher z.B. Spenden kommen und welche Einflussnahmen auf religiöse Marken z.B. durch politische Mächte im In- und Ausland, versucht werden. Hinzu kommt, dass die Landeskirchen aus ihrer eigenen geistlichen Tradition viele Möglichkeiten kennen, Menschen in ihrer beruflichen Identitätsperformanz zu unterstützen, z.B. durch Rituale bei Berufseinritt und im Alltag. Diese Ressourcen der christlichen Glaubenspraxis für spirituelle Identitätsperformer*innen lebendig zu halten und im Studium, Aus-, Fort- und Weiterbildung zu erschließen, wird zunehmend wichtig werden, je mehr sich das Feld der religiösen Berufe verändert.

“Wir brauchen viel mehr differentielle Forschungen, wenn wir die Metamorphose der religiösen Gegenwartskultur wissenschaftlich im Blick behalten wollen.”

Matthias Roser: Die Studie macht außerdem deutlich, dass wir viel mehr solche differentiellen Forschungen brauchen, wenn wir die pluralen Formen, die die „Metamorphose der religiösen Gegenwartskultur“ hervorbringt, wissenschaftlich im Blick behalten wollen. Dabei wird auch wichtig die „branding of faith“-Dynamik als Ausdrucksform eines postmodernen, wirtschaftsliberalen Kapitalismus kritisch zu diskutieren. Weitere solche Studien – für den deutschsprachigen Raum – scheinen daher dringend notwendig. Im Blick auf die Landeskirchen ist es außerdem eine große Aufgabe, auch die internationalen Forschungen zur Metamorphose des religiösen Feldes stärker als bisher zu rezipieren. Außerdem ist auch wichtig, dass die Landeskirchen wahrnehmen, wie sehr in solchen Interviews den Befragten die Auflösung der Volkskirche inzwischen als normal erscheint und dass die Idee mit Jesus verbunden zu sein und alternative Marken neben der Kirche zu etablieren und zu leben, inzwischen für viele Menschen in zweiter und dritter Generation Realität ist.

Sie haben die Studie in dem Buch „Spirituelle Identitätsperformanzen” veröffentlicht. Welche Berufsgruppen können von der Lektüre profitieren?

Konstanze Kemnitzer: Die Studie ist für alle interessant, von denen in ihrem Beruf erwartet wird, dass sie ihren Glauben, ihre Spiritualität professionell einfließen lassen. Und für alle, die Leitungsverantwortung in religiösen Einrichtungen, Organisationen und brandings of faith haben, in Kirche, Diakonie, Freikirchen und ggf. auch in anderen weltanschaulichen Gruppierungen, sowie für politische Verantwortungsträger*innen, die die Veränderungen des religiösen Feldes mitbedenken wollen.  Evangelikale Bekenntnisschulen sind zunächst ein sehr spezifisches, exponiertes Forschungsfeld – aber gerade dadurch kommen tiefe grundsätzliche Beobachtungen und Fragen zu tage, die sich zu bedenken lohen. Darum: Wir freuen uns sehr über Resonanz, auch über den praktisch-theologischen Forschungsdiskurs hinaus.